Einschub: Was ist chatting with creatives?
Gerade in der Kreativbranche ist es wichtig, sich regelmäßig auszutauschen und voneinander zu lernen. Nirgendwo sonst gibt es meiner Meinung nach so große Unterschiede in der Auftragsabwicklung, der Kundenkommunikation oder der Preisgestaltung.
Um mehr über andere Ansätze zu erfahren und die Arbeit anderer Kreativer sichtbar zu machen, habe ich das Format chatting with creatives ins Leben gerufen. Bis Weihnachten veröffentliche ich jeden Sonntag ein Interview mit Expert*innen aus der Kreativbranche. Ich freue mich auf euer Feedback und wünsche viel Spaß beim Lesen!
Interview
Danke Nick, dass du dir die Zeit für ein paar Fragen nimmst. Ich bin gespannt, was du aus deinem Berufsalltag als Senior Industrial Designer zu erzählen hast und freue mich auf wertvolle Insights.
Präsentationsskizzen und Rendering, Nick Kerscher
Sehr gerne, Sarah. Es freut mich, dass du an meinen Erfahrungen interessiert bist. Ich freue mich ebenfalls auf das Interview und darauf, meine Einblicke zu teilen. Danke, dass du dir die Zeit nimmst, mehr über meinen Arbeitsalltag und die einhergehenden Herausforderungen zu erfahren. Ich hoffe, dass meine Antworten dir und deinen Leser:innen weiterhelfen.
Über Flair und Fleiß
Nick, du hast genauso wie ich deinen Bachelor in Industriedesign an der OTH Regensburg abgeschlossen. Wie bist du damals auf den Studiengang aufmerksam geworden und was hat dich dazu gebracht Industriedesigner zu werden?
Ich war schulisch nie sonderlich begabt, was bestimmt auch ein wenig an meiner damaligen Einstellung lag. Stattdessen waren meine Stärken schon immer eher in Sport und vor allem motorischem Geschick verortet, was mir unter Mitschüler:innen auch den Ruf einer gewissen künstlerischen Begabung einbrachte. Trotz meiner mittelmäßigen Noten bestand auch immer eine Begeisterung für Technik und die Neugier an physikalischen Zusammenhängen sowie ein gutes Verständnis für technische Abläufe.
Mangels Alternativen setzte ich mich über die Meinung meiner damaligen Kunstlehrerin hinweg, die meinte, ich hätte nicht ausreichend Talent und bewarb mich erfolgreich an der OTH Regensburg. Mit dem Wissen, dass Industriedesign Funktion und Ästhetik physischer Produkte verbindet, erschien mir dieser Weg als die logischste Wahl.
Die Wahl Regensburg als Studienort ist eine ebenso pragmatische Geschichte: Ich liebe das Flair der Stadt und habe mir hier durch die kürzliche Gründung des Studiengangs die besten Chancen ausgerechnet – ich war zu diesem Zeitpunkt, vor allem durch Aussagen besagter Lehrkraft, nicht sonderlich optimistisch eingestellt.
Designzukunft ist holistisch
Wie hat sich, deiner Meinung nach, die Welt des Industriedesigns in den letzten Jahren verändert und wie informierst du dich über aktuelle Trends und technische Neuheiten?
In den letzten Jahren hat sich die Welt des Industriedesigns stark gewandelt – nicht nur durch leistungsfähigere CAD- und Render-Tools sowie dem zunehmenden Einfluss von AI, was den Designprozess erheblich beschleunigt, sondern auch durch einen klaren Shift hin zum digitalen Produktdesign.
Während früher die physische Gestaltung im Vordergrund stand, etwa bei der Variation von Mobiltelefon-Formen, dominieren heute schlanke, nahezu identische Geometrien. Der Designfokus verlagert sich zunehmend auf das digitale UX/UI-Design, um dem Produkt seine Individualität zu verleihen. Industriedesigner:innen sind daher gezwungen sich nicht mehr nur auf ein eingeschränktes Skillset zu verlassen.
Es ist heutzutage umso wichtiger einen holistischen Ansatz zu verfolgen: Innovation, Servicedesign, Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung, User Experience Design, Circular Design, Systemdenken, Co-Creation, usw.; beratende und strategische Fähigkeiten werden immer gefragter. Reines „Hard Surface Design“ rückt immer weiter in den Hintergrund.
Um über diese Entwicklungen informiert zu bleiben, verfolge ich Designblogs, nutze soziale Netzwerke wie Instagram und LinkedIn und tausche mich aktiv mit anderen Designer:innen aus – oft ergeben sich die besten Einblicke genau durch diese Gespräche.
Online media und Offline meetups
Welche Plattformen sind deiner Meinung nach für Design am relevantesten und warum?
Für Design halte ich LinkedIn und Instagram für besonders relevant, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. LinkedIn eignet sich gut, um berufliche Kontakte zu knüpfen, Projekte zu teilen und sich über Trends in der Branche zu informieren – auch wenn die Plattform manchmal oberflächlich wirken kann und mehr aus einem Buzzword Bingo und gegenseitige Beweihräucherung besteht, anstatt tatsächlichen Nutzen zu generieren.
Instagram hingegen eignet sich ideal, um visuelle Arbeiten zu präsentieren, Inspiration zu sammeln und mit der Kreativ-Community in Kontakt zu treten.
Trotzdem finde ich, dass der persönliche Austausch auf Designerstammtischen, Meetups oder ähnlichen Veranstaltungen mindestens ebenso wichtig ist. Gespräche im echten Leben ermöglichen einen tiefen Einblick in unterschiedliche Perspektiven und schaffen Verbindungen, die digital nur schwer aufzubauen sind. Auch wenn es Überwindung kosten kann, solche Events zu besuchen, lohnt es sich fast immer – die besten Ideen und Chancen entstehen oft in ungezwungenem, persönlichem Austausch.
Am besten ist es, den Kontakt zu motivierten (Ex-)Kolleg:innen zu pflegen; in diesem Umfeld entsteht häufig ein ehrlicher und praxisnaher Austausch, der auf gemeinsamen Erfahrungen basiert. Im beruflichen Kontext neigen Gespräche mit weniger vertrauten Personen oft dazu, formeller und zurückhaltender zu sein, was die Tiefe und Authentizität des Austauschs beeinflussen kann.
Auf sich und seine Skills vertrauen
Als angehende:r Gestalter:in steht man vor vielen Fragen. Was würdest du dir selbst raten, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest?
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mir raten, die Meinung von z.B. Dozent:innen und anderen Parteien nicht zu ernst zu nehmen. Viele haben eine romantische oder individuelle Vorstellung von Design, die oft nicht mit der Praxis übereinstimmt. Statt mich zu sehr auf gute Bewertungen zu konzentrieren, hätte ich mehr für mich und mein Portfolio arbeiten sollen, um meine eigenen Fähigkeiten und meinen Stil zu entwickeln.
Es ist wichtiger als Gestalter:in eine klare Handschrift zu finden, anstatt sich zwanghaft den Vorstellungen anderer anzupassen.
Ein weiterer Rat wäre, sich frühzeitig mit Kommiliton:innen und anderen Designer:innen zu vernetzen. Die meisten wertvollen Lektionen habe ich durch den Austausch mit Mitstudierenden und ihren unterschiedlichen Perspektiven und beruflichen Backgrounds gelernt. Dieses Netzwerk ist nicht nur während des Studiums, sondern auch später im Berufsleben eine immense Ressource.
Nach dem Studium liegt der Fokus darauf, möglichst viel Wissen und Erfahrung zu sammeln. Ich sehe die Jahre zwischen 20 und 30 als die entscheidende Phase, um ein solides Fundament an Hard Skills aufzubauen. Erst wenn man seine Tools wirklich beherrscht und sie einen nicht mehr im kreativen Prozess ausbremsen, kann man sich voll auf (sehr) gute Gestaltung konzentrieren.
Ab den 30ern verlagert sich der Fokus weiter in Richtung Designstrategie, Kommunikation und übergreifende Zusammenarbeit. Wenn ich in die Zukunft blicke, denke ich, dass diese Kombination eine hervorragende Basis ist, um in den 40ern eine prägende Rolle in der Wissensvermittlung und Leadpositionen größerer Teams einzunehmen.
Zeitlimit und Kreativität im Einklang
Eine Frage, die mich persönlich sehr beschäftigt: Wie bleibt man kreativ und authentisch, ohne die Budgetgrenze bei Projekten aus den Augen zu verlieren?
Im Kontext der Projektkalkulation sehe ich Budgetgrenzen als Synonym für Zeitlimits, da der Stundensatz den zeitlichen Rahmen vorgibt. Zeitlimit und Kreativität sind für mich kein Widerspruch. Im Gegenteil, oft entstehen die besten und innovativsten Lösungen genau dann, wenn man mit Vorgaben zu kämpfen hat.
Es sind häufig diese Herausforderungen, die den kreativen Prozess besonders bereichern und zu unerwarteten, effektiven Lösungen führen. Ist sehr wenig Budget vorhanden, definiere ich die Kernelemente eines Projekts frühzeitig und konzentriere mich darauf, mit einfachen, aber effektiven Details die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Diese Details beziehen sich nicht ausschließlich auf's Produkt, sondern können auch meinen Workflow beeinflussen – clevere Shortcuts und Workarounds beispielsweise.
Meist ist es auch zielführend kleine Steps aus dem gesamten Designprozess anzubieten um Kund:innen ein Weiterarbeiten schmackhaft zu machen, wenn wieder mehr Ressourcen vorhanden sind. Es ist aber zu beachten, dass man sich nicht unter Wert verkauft.
Kompromissbereitschaft statt Perfektionismus
Wie schafft man es den richtigen Zeitpunkt zu finden, um einen Entwurf endgültig zu finalisieren? Wann ist eine Idee „zu Ende gedacht“?
"Gedacht" bzw. das Verb „denken“ impliziert einen sehr isolierten Prozess. Es ist selten ein rein „introspektiver“ Vorgang, sondern vielmehr das Resultat gemeinsamer Diskussionen und Feedbacks, die die Idee weiter schärfen und bestätigen, ob sie ausgereift ist. Oft entstehen aus unfertigen Ideen – und sei es durch Fehlinterpretation -im Austausch mit Kolleg:innen solide bis wasserdichte Konzepte.
Man sollte von daher nicht ohnehin unerreichbarer Perfektion entgegeneifern sondern vielmehr - wenn ein gewisser Grad der Zufriedenheit oder das Gefühl, Stakeholder „abholen zu können“ erreicht ist – in den Austausch gehen.
Ich glaube es ist fast unmöglich eine Idee zu Ende zu denken. Oft schaue ich auf alte Projekte zurück, mit denen ich zu dieser Zeit sehr zufrieden war, und finde dann doch immer noch Verbesserungsmöglichkeiten. Man sollte sich von der Vorstellung einer ‚perfekten‘ Idee verabschieden, auch wenn das schwerfällt.
Klarer Kopf schafft Flexibilität
Du bist als Senior Industrial Designer bei happybrush tätig, einem jungen Unternehmen aus München, das die Mundhygiene revolutioniert und nachhaltiger macht. Welche drei Eigenschaften sind für deine alltägliche Arbeit am wichtigsten?
Flexibilität, strukturiertes Denken und Kreativität sind entscheidend, da wir ständig an verschiedenen Projekten arbeiten, die unterschiedliche Anforderungen an uns stellen. Es ist wichtig, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren und kreative Lösungen zu finden, auch wenn sich Anforderungen oder Rahmenbedingungen ändern. Wenn ein Task als unlösbar, weil von Grund auf anders und neu, erscheint, teile ich den Prozess in machbare Schritte ein und finde mögliche Lösungsansätze.
Ich habe beispielsweise eine modulare Vorrichtung entwickelt, um in kürzester Zeit unterschiedlichste (Zahnbürsten-)Borstenfelder hinsichtlich ihrer Filament-Anordnung und Schnittkontur auf ihre Reinigungsleistung zu testen. Das klingt erstmal nicht nach einem Task für mich als Industriedesigner. Wenn man aber weiter darüber nachdenkt, bin ich im Unternehmen die einzig dafür in Frage kommende Person – ich habe die Fähigkeit derartige Lösungsansätze zu erdenken und die nötigen Hardskills, wie CAD und 3D-Druck, um sie auch zu realisieren.
Kreative Denkweise sichtbar machen
Was sind deine Lieblingsbeispiele für erfolgreiche Industriedesign-Portfolios, bzw. was sollten diese immer zeigen?
Die besten Portfolios erzählen eine klare Geschichte (Stichwort Storytelling) bis zum finalen Produkt/ Konzept. Ich schätze es, wenn man den Prozess nachvollziehen kann, also Skizzen, CAD-Modelle, Mockups und Prototypen sieht.
Außerdem sollte ein Portfolio Persönlichkeit zeigen – es ist spannend zu sehen, wie Designer:innen an Problemlösungen herangehen. Es geht nicht nur darum, fertige Produkte wie im Katalog zu präsentieren, sondern auch, die eigene Denkweise und kreative Herangehensweise zu zeigen.
Prototypenbau und Ideenfindung, Nick Kerscher
Nachhaltigkeit ganzheitlich betrachten
Bei happybrush beschäftigt ihr euch tagtäglich mit dem Thema Nachhaltigkeit. Gestalter:innen haben viel Verantwortung für die Lebensdauer eines Produkts. Welche Möglichkeiten siehst du, um ein Produkt oder ein Konzept möglichst umweltfreundlich zu gestalten?
Man hört in diesem Zusammenhang immer wieder vom sehr umfangreichen Product Life Cycle. Um meine Antwort kurz zu halten, konzentriere ich mich auf die für mich am wesentlichsten Punkte:
Zum einen achten wir darauf, dass wir wo es geht nachhaltige Materialien verwenden können. Unsere Wechselaufsteckbürsten bestehen z.B. aus einem Material aus nachwachsenden Rohstoffen, welche nicht im Konflikt mit der Lebensmittelindustrie stehen, und kurze Lieferketten ermöglichen.
Ein zweiter Angriffspunkt liegt in der Konstruktion selbst. Wir konzipieren unsere Produkte so, dass sie möglichst gut reparier- und recyclebar sind. Eine wichtige Rolle spielt auch wie schon angedeutet die Lieferkette – eins meiner aktuellen Projekte ist es, die Lieferkette eines bestehenden Produkts weiter zu regionalisieren.
Zu guter Letzt setzen wir zunehmend auf „Refill“-Konzepte. Ob Zahnseide, Mundspülung, Zahnpaste, Schallzahnbürste und sogar Handzahnbürste (mit unserer „Eco Change“) - wir achten, wo es geht auf Wiederverwendbarkeit, Verpackungseinsparung und Materialeffizienz.
Nick, ich danke dir für deine spannenden Einblicke ins Thema Industriedesign.
Alles Gute dir weiterhin, und viel Erfolg bei deinen kommenden Projekten.
Mehr von Nick Kerscher:
Meine eigenen Gedanken:
Ich habe auch festgestellt, dass von Industriedesigner:innen zunehmend mehr Know-how in den verschiedensten Bereichen erwartet wird. Ich persönlich empfinde das nicht als schlecht, im Gegenteil: Ich schätze es, wenn ich meine Fähigkeiten in Fotografie, Grafikdesign oder Projektmanagement in meine Arbeit als Industrie- und Produktdesigner einbringen kann. Das ist ein Grund, warum ich mich für die Selbstständigkeit entschieden habe: Um so viele dieser Fähigkeiten wie möglich in meine tägliche Arbeit zu integrieren. Gleichzeitig weiß ich, dass diese automatische Erwartungshaltung zusätzlichen Druck auf die Gestalter:innen ausübt.
Mein Ansatz ähnelt dem, den Nick für sich selbst definiert hat: Weniger auf andere Stimmen hören, die eigenen Fähigkeiten schärfen und dranbleiben, wenn Themen auftauchen, die einem am Herzen liegen. Letztendlich werden Arbeitgeber:innen oder Kund:innen sich eher für die Dienstleistung entscheiden, wenn Ideen gut kommuniziert werden und man Erfahrung darin hat, sich und andere zu strukturieren. In der Designbranche ist es außerdem wichtig, kompromissfähig zu sein. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, mit den Ressourcen wie Geld und Zeit das beste Ergebnis für unsere Kund:innen zu erzielen.
Der ganzheitlich gedachte Designansatz ist für mich in meiner Arbeit wichtig. Ich habe öfter darüber geschrieben, dass umweltfreundliches Gestalten nicht nur von Materialien abhängt, sondern der ganze Lebenszyklus eines Produkts, wie Nick mit seiner letzten Antwort deutlich gemacht hat, von Bedeutung ist. Ich hoffe, dass diese Auffassung von nachhaltigem Design in deutschen Unternehmen bald nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein wird. Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen.
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